Die COVID-19 Krise lässt Kritik am Modesystem laut werden
Im Moment tun wir alles, um die COVID-19 Krise zu bewältigen. Aber was kommt nachher? Die ersten, die eine Antwort auf diese Frage zu haben schienen, waren die Zukunftsforscher. In ihren Szenarien sind sowohl Utopie als auch Dystopie möglich. Wir fragten verschiedene Akteure der Modeindustrie nach ihren ganz persönlichen Einschätzungen. Wie erleben sie die COVID-19 Krise und wie wird sich COVID-19 auf ihren persönlichen Arbeitsbereich auswirken?
Nach sieben Wochen Shutdown sind die Geschäfte zwar wieder geöffnet, aber „der sonst so unbeirrbare Modekreislauf ist zum Stillstand gekommen – und ein Ende ist noch nicht in Sicht.“ sagt Scott Lipinski Geschäftsführer vom Fashion Council Germany (FCG). Der Shutdown hat die Wertschöpfungsketten der Modeindustrie empfindlich getroffen. Die Kollektionen für Herbst/Winter 2020/21 können nicht produziert werden, weil die Produktionen in Italien und China eingestellt wurden. Im Handel sind die Lager mit Frühjahrsware gefüllt und können aufgrund der rückläufigen Kaufkraft nicht entsprechend abgebaut werden. Der Onlinehandel konnte die Umsätze, die durch die Schließung der Geschäfte entgangen sind, nur geringfügig auffangen. Aber auch wenn die Produktion wieder in Gang kommt - derzeit können die für die Vorfinanzierung erforderlichen Sicherheiten nicht geleistet werden.
Verantwortung wahrnehmen
Die Auswirkungen sind unabsehbar und werden weit über das Jahr 2020 hinaus reichen. Selbst wenn Krisenpläne in den Schubladen waren – eine Strategie für einen Shutdown war nicht dabei. Die muss jetzt ad hoc gefunden werden. Viele bangen um ihre Existenz und allen ist klar, das die Modeindustrie durch COVID-19 eine Veränderung durchlaufen wird. Wie die Zukunft aussieht, werde von uns allen abhängen, sagt die Schweizer Designerin und Design Consultant Lela Scherrer:
„Sich Sorgen zu machen bringt nicht viel, vorbereitende Gedanken jedoch schon. Agil und flexibel zu bleiben ist in unserem Arbeitsfeld wichtiger als je zuvor, Visionen und Zeitgeist mit viel Verantwortung zu erspüren entscheidend.“
Intern vernetzen
Die Branche müsse sich intern vernetzen und Erkenntnisse und Strategien austauschen. Außerdem brauche es auch effiziente Unterstützung vom Staat, sagt Alexandra Tistounet. Sie arbeitet in Frankreich im Creative Consulting – unter anderem für die Kaufhauskette Printemps.
„Kaum ein kleines oder mittelständisches Modeunternehmen kann die Pandemie wirtschaftlich alleine durchstehen.“
Besonders fordernd sei die Situation für junge aufstrebende Designer und Modelabels. Vor allem in ihren Anfängen seien viele von den Verkäufen an den Einzelhandel abhängig. Nur wenige verfügen über einen eigenen Onlineshop. Um ihre Kollektionen überhaupt anfertigen zu können, seien viele auf Anzahlungen von Händlern angewiesen. Bei bereits produzierten Kollektionen droht die Stornierung von Bestellungen und das könne gravierende Folgen auf die Existenz der Modelabels haben. Die mangelnde Planbarkeit sei derzeit die größte Herausforderung, so Tistounet.
„Ich hoffe, dass die Modeindustrie die Zeichen der Zeit erkennt und längst notwendige Veränderungen beschleunigt. Konsum muss bewusster, nachhaltiger und inklusiver werden.“ Alexandra Tistounet, Creative Consulting
Die Chancen nutzen
Das Fashion Council Germany e.V. (FCG) arbeitet momentan an Themen, die nach der COVID-19 Krise auf seine Mitglieder zukommen. Die Interessensgemeinschaft der deutschen Modeindustrie zählt viele kleine Modelabels und Designer zu ihren Mitgliedern – aber auch Händler, Agenturen und Messebetreiber. Die Themen basieren auf einer Mitgliederbefragung und diese ergab, dass viele enorme wirtschaftliche Rückgänge erwarten: Die Mehrheit rechnet im laufenden Jahr mit Umsatzeinbußen von etwa 50 Prozent. 30 Prozent geben an, dass mehr als zwei Drittel der Händler ihre Bestellungen stornieren wollen. Jetzt hinterfragen viele das schnelllebige Modesystem und fordern eine Entschleunigung.
“Alle beschäftigen sich mit der Frage, ob das gelernte und routinierte System, so wie wir es kennen und wie es seit Jahren praktiziert wird, ein zukunftsfähiges ist.“ Scott Lipinski, Geschäftsführer Fashion Council Germany.
Die Politik fordern
Das FCG will die Existenzen der Modeschaffenden sichern und die Chancen der COVID-19 Krise nutzen. Ohne den politischen Willen wird dies allerdings nicht gelingen. Deshalb wurden Handlungsvorschläge an die Politik formuliert, die bereits online nachzulesen sind.
Unter anderem geht es darin um steuerliche Anreize für lokal produzierende Modelabels und das mietrechtliche Aussetzen/Stunden von Mietzahlungen in der Zeit der Krise. Aber auch Dinge wie die Senkung der finanziellen Belastungen für die zweite Jahreshälfte 2020 werden gefordert: Zum Beispiel sind dies Steuer- und Sozialversicherung sowie Personalkosten.
Die Digitalisierung vorantreiben
Um die eigenen Services in der Isolation weiterführen zu können, digitalisierte das Fashion Council Germany seine Seminare, Workshops und Networking Events innerhalb kurzer Zeit. Seither erhalten die Mitglieder die Informationen zu wichtigen Fragen in der COVID-19 Krise in Form von Webinaren. Zuletzt ging es um Themen wie Krisenmanagement, Digital Sourcing und E-Commerce sowie Nachhaltigkeitskultur. Über letzteres sprach Dorothée Spehar von der DS Agency.
Sie thematisierte unter anderem den hohen Ressourcenaufwand für den Besuch von Shows in Paris, Mailand oder New York an. Ein hoher Zeit- und Kostenaufwand stehe einem bloß flüchtigen Eindruck von den Modellen gegenüber. Gehe es dort doch nur um die Show, so Spehar. Sie empfiehlt digitale Tools um effizient sein zu können und nicht mehr an die physische Präsenz gebunden zu sein.
In Österreich laufen Webinare zur Klärung wichtiger unternehmerischer Fragen über die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) und die Kreativwirtschaft Austria (KAT):
Corona als Chance
Coronavirus: Wirtschaftskammer als Anlaufstelle für Unternehmen
Den Wandel beschleunigen
Eine Krise zeige auf, sagt Christiane Varga aus dem Think Tank des Wiener Zukunftsinstituts. Das, was jetzt sichtbar wird, werde in vielen Fällen unseren Alltag, unsere Lebenswelt verändern. Im Kern gehe es um Beziehungen. Auf dem Prüfstand stehen Beziehungen zu Berufsgruppen und zur Umwelt – aber auch Handelsbeziehungen.
„Sogenannte systemrelevante Berufe müssen jetzt besser bezahlt werden. Komfort, Fast Fashion und billige Produkte auf Kosten anderer zu konsumieren wird bald völlig ‚out’ sein.“
Und tatsächlich trifft auch die Coronakrise die schwächsten Glieder in der Kette wieder am stärksten. Große westliche Modeunternehmen haben Produktionsaufträge in Indien und Bangladesch storniert und die Textilarbeiter gleiten in die Armut ab. Dazu kommen Gesundheitssysteme, die der Behandlung von schweren Fällen nicht gewachsen sind.
Eine Krise zeige aber nicht nur auf, sondern zwinge auch zur Transformation - zum Abgleichen und Aussortieren. Jetzt sei es an der Zeit eine gemeinsame Idee von Zukunft zu entwickeln und diese auch umzusetzen. Mit allem Mut, mit aller Enttäuschung, mit allen Rückschlägen und mit allen Freuden, die Entwicklung nun mal beinhalte. Es sei an der Zeit für die Gesellschaft zu wachsen.
„COVID-19 kann vom Entschleuniger unserer Gesellschaft und Wirtschaft zum Beschleuniger des positiven Wandels werden.“
https://www.christianevarga.com/
Text: Hildegard Suntinger (01.05.2020)