Ist weniger in Zukunft mehr? Degrowth in der Modeindustrie
Geringeres Wachstum, größerer Wandel: Degrowth als Leitprinzip für eine nachhaltigere Modebranche? Doch bleibt die Frage, ob ein Rückgang des Wachstums wirklich realistisch ist, wenn es stets darum geht, sich zu vergrößern, um zu überleben.
In aktuellen Diskursen über Mode und Umwelt gewinnt der Begriff Degrowth
zunehmend an Bedeutung. Laut dem Wirtschaftsanthropologen und
Verfechter dieser Bewegung, Jason Hickel, bedeutet es eine geplante
Reduzierung des Energie- und Ressourcenverbrauchs, um die Wirtschaft
wieder in Einklang mit der Welt zu bringen, wobei gleichzeitig
Ungleichheiten verringert und das menschliche Wohlbefinden verbessert
werden sollen.
Auf den ersten Blick scheinen diese Anliegen in der Modeindustrie allerdings gegensätzlich zu sein. Schließlich basiert die Bekleidungsindustrie auf einem System des kontinuierlichen Verbrauchs und der Ausbeutung von Ressourcen. Eine so antikapitalistische Bewegung wie Degrowth, die dieses System in Frage stellt, sorgt natürlich für Aufsehen. Dennoch ist sie alles andere als neu: Der Begriff wurde bereits 1972 von dem französisch-österreichischen Politiktheoretiker André Gorz geprägt. "Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, in der das ökonomische Wachstum nicht mehr notwendig ist, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen. Das Ziel sollte nicht mehr Wohlstand für alle durch mehr Produktion sein, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bei minimaler Umweltbelastung", stellte er schon damals fest. Trotz vieler Befürworter_innen, setzte sich Gorz Ansicht nie wirklich durch. Erst heute, da sich die Konsument_innen den katastrophalen Folgen des globalen Überkonsums stärker bewusst werden, klingt dieser Gegenentwurf immer verheißungsvoller.
Ein Blick auf die De-Fashioning Education Konferenz in Berlin
Welch tragende Rolle das Konzept Degrowth in einer nachhaltigeren Zukunft der Modeindustrie spielt, diskutierte man bei der De-Fashioning Education Konferenz vergangenen September in Berlin. Die Quintessenz der hybriden Veranstaltung: Wir müssen unser Leben mehr auf das Sein ausrichten, nicht nur auf das Haben. Unter den Speaker_innen war auch Sandra Niessen, Anthropologin und Mode-Aktivistin. Sie kritisierte in ihrem Vortrag sowohl die westliche Modeindustrie für ihren Imperialismus, als auch Ausbildungsstätten für ihre starren Systeme. Als Gründerin des Research Collective for Decoloniality and Fashion und Fashion Act Now hat die Niederländerin kürzlich ein Manifest veröffentlicht, in dem sie das Wort De-Fashion prägt – also das derzeitige globale Modesystem zu vereinfachen und zu verkleinern.
„Die Modeindustrie ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und sie geht uns alle an. Die Frage ist: Sind wir wirklich stolz darauf, was in diesem Spiegel zu sehen ist, wenn wir hineinschauen?“ gibt Niessen zu bedenken. Die größte Chance sieht sie bereits in der Ausbildung von Modenachwuchs in Schulen und Universitäten. „Vor allem die westliche Gesellschaft hat ein Modesystem übernommen, in dem so viel falsch läuft, so viele außen vor bleiben und so wenige profitieren. Wir müssen das von Grund auf ändern“, so die Aktivistin in ihrer Rede.
Vision vs. Realität
In der Modebranche wie wir sie kennen, ist Degrowth das Gegenteil des derzeit vorherrschenden Geschäftsmodells, der Fast Fashion. Das Ziel ist also sehr viel weniger Kleidungsstücke zu produzieren und sie länger zu behalten. Kleidung zu reparieren, anstatt sie wegzuwerfen und ihr mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Denn die Modeindustrie ist verschwenderischer als je zuvor: Schätzungen zufolge produziert sie jährlich mehr als 100 Milliarden Kleidungsstücke, ein großer Teil davon landet ungetragen auf Mülldeponien oder verschmutzt die Natur. Noch besorgniserregender ist die Tatsache, dass die meisten dieser Produkte innerhalb von nur fünf Jahren nach dem Kauf weggeworfen werden. Dennoch erwartet man, dass die weltweite Kleidungsnachfrage noch steigt. In der Praxis kann die Umsetzung von Degrowth auf vielfältige Weise erfolgen: Große Modemarken könnten beispielsweise ihre Produktion drosseln, ihren Mitarbeitern existenzsichernde Löhne zahlen und dennoch wirtschaftlich erfolgreich sein. Die Gewinne könnten entlang der gesamten Lieferkette verteilt werden, um die Nutzung sauberer Energie, die Reduzierung von Umweltverschmutzung und faire Löhne zu fördern. Designer_innen könnten den Weg für diese neue Industrie ebnen, indem sie kleinere Kollektionen saisonunabhängiger Kleidungsstücke herstellen, die auf Langlebigkeit ausgelegt sind. Oder in Kreislauftechnologien investieren, um verschwenderische Produktionsmodelle zu meiden. Etablierte Modehäuser könnten Vintage-Stücken aus ihren Archiven neues Leben einhauchen und vieles mehr. So vielversprechend klingt zumindest die Theorie. Aber wie sieht es in der Praxis aus?
Alternative Konzepte
Noch stellt keines der bekannten Unternehmen ihr Geschäftsmodell im Sinne des Degrowth-Gedanken um. Einige setzen zaghafte Maßnahmen, bei vielen ist Degrowth aber nicht viel mehr als ein werbewirksames Schlagwort. Bekannte Modemarken wie Ralph Lauren oder Tom Ford bemühen sich beispielsweise gerade, Abläufe kreislauffähiger zu gestalten und Überproduktion zu minimieren. Das Outdoor-Modelabel Early Majority ist vielleicht das erste weltweit, das auf so eine übermäßige und schnelle Produktion komplett verzichtet. Das Startup startete im Frühjahr 2021 mit nur sieben Produkten, die aber für alle Eventualitäten angepasst und kombiniert werden können. Ein Konzept, dem auch alle anderen neuen Produkte folgen, von denen pro Saison nur 2-3 hinzukommen. Gründerin und CEO Joy Howard war zuvor Vizepräsidentin für globales Marketing beim Outdoor-Hersteller Patagonia, der bereits vor Jahrzehnten mit seiner antikapitalistischen Kaufen Sie diese Jacke nicht - Kampagne für Aufsehen sorgte.
„Wir haben erkannt, dass wir bessere Oberbekleidung herstellen
können, wenn wir nicht ständig Möglichkeiten finden müssen, um mehr zu
verkaufen. Die Funktionalität und Ästhetik jedes Kleidungsstücks sollte
in der Lage sein, Sie vom Fahrrad bis zum Meeting oder von der Bar bis
zum Outdoor-Abenteuer zu begleiten“, erklärte Howard ihr Konzept in einem Interview mit der Vogue. Early Majority
verfolgt ein Community-Modell, in dem regelmäßige Kundschaft sich für
Mitgliedsbeiträge einige Vorteile sichern können. Ein interessanter
Aspekt: Diese Beiträge tragen letztendlich mehr zum Gesamtumsatz bei als
die Produktverkäufe. Zusätzlich haben Mitglieder die Möglichkeit,
ältere Kleidungsstücke einzutauschen, die dann in einen
Wiederverkaufskanal gelangen.
Bildung als treibende Kraft des Wandels
Aktivistin Sandra Niessen bezeichnet die Mode in ihrem Manifest treffend als Lieblingskind des Kapitalismus. Während Bekleidung eine kreative und verbindende Kraft sei, wäre sie in ihrer industrialisierten Form weitgehend ausbeuterisch und unvereinbar mit Gerechtigkeit. „Deshalb ist das Klassenzimmer der radikalste Raum der Möglichkeiten. Um eine Kultur zu verändern, muss man ihre Bildung verändern. Um das Modesystem zu ändern, muss man ändern, wie Mode gelernt und gelehrt, wahrgenommen und praktiziert wird“, so Niessen. Vor allem in renommierten Modeschulen und Unis würde man richtiggehend auf schnelles Wachstum gedrillt. Umso desillusionierender ist es, wenn man als Designer_in ein eigenes Label gründet und dem nicht gewachsen ist.Doch es braucht frisches Blut, um veraltete Systeme aufzureißen, sagt Niessen in ihrer Rede abschließend: „Das schönste ist es, wenn man den Nachwuchs aufblühen sieht. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Energie und Leidenschaft fördern, ihr Raum geben, anstatt sie zu ersticken. Wir müssen dem kreativen Nachwuchs eine Chance geben, sich zu entfalten und sie nicht in ein enges System zwängen. Die Modeindustrie muss Bedingungen schaffen, um das zu erlauben. Und die nachfolgende Generation muss dafür einigen Mut aufbringen.“
Jenni Koutni (1. März 2024)
Titelbild: Collage, AFN
Degrowth in Österreich
Degrowth Vienna ist ein Kollektiv von Aktivist_innen, jungen Wissenschaftler_innen, Organisator_innen und Expert_innen, die in Wien, aber auch darüber hinaus aktiv sind. Laut dem Kollektiv hat sich Wien zu einem Hotspot in Europa für Forschung und Aktivismus zu sozial-ökologischer Transformation und Degrowth entwickelt. Durch Workshops, Events und andere Projekte versucht man gemeinsam, Degrowth in der Praxis zu erklären und vor allem Unternehmen, aber auch Konsument_innen zu einem Umdenken zu bewegen.
Tipp: Veranstaltung von Fashion Act Now
14. März, 2024, 18 - 20 Uhr via Zoom mit Anmeldung