Mode in Theorie und Praxis: Eine vielschichtige Auseinandersetzung
Die Onlinekonferenz The Digital Multilogue on Fashion Education untersuchte Rahmenbedingungen der Modeindustrie und deren Beziehung zu Bildungsstätten sowie das noch ungenutzte utopische Potenzial der Mode in Theorie und Praxis.
In der universitären Modeausbildung ist die Fähigkeit, ein eigenständiges und konsistentes Kollektionskonzept zu entwickeln, nur mehr eine Anforderung. Ein zunehmend komplexer Modemarkt eröffnet auch neue Berufsfelder - und dieser Dynamik zu folgen, erfordert eine grundlegende Neuorientierung. Mit Digital Fashion Multilogue wurde ein globales Netzwerk von Modepädagog*innen gebildet, das diese Herausforderung annehmen will. Die Onlinekonferenz zum Lehren und Lernen von Mode, versammelt Modepädagog*innen und -studierende von renommierten Ausbildungsstätten weltweit in Talks und Workshops.
Vom 1. bis 2. Oktober 2021 ging die Onlinekonferenz in die zweite Auflage. Veranstalter ist The American University of Paris (AUP). Die Initiatorinnen sind Dr. Renate Stauss und Franziska Schreiber. Stauss unterrichtet an der AUP am Department of Global Communications im Fach Fashion Studies. Schreiber unterrichtet an der Universität der Künste Berlin im Fach Modedesign. An der Konferenz nahmen mehr als 300 Teilnehmer*innen von über 200 Institutionen teil.
Virtuelle Ausstellung
Begleitet wurde die Onlinekonferenz von einer virtuellen Ausstellung. Diese lief unter dem Titel HOPING & DOUBTING und zeigte Arbeiten und Ideen, die in einem Austausch von Studierenden der American University Paris (MA Global Communications - Fashion Track) und der Universität der Künste Berlin (BA / MA Modedesign) entstanden.
Modeausbildung neu denken und neue Inhalte vermitteln
Die Modepädagog*innen monieren, dass die Modeausbildung eines analytischeren Zugangs sowie neuer Herangehensweisen und Inhalte bedürfe. Auch seien die jüngsten Entwicklungen in der Modeindustrie noch nicht ausreichend wissenschaftlich dokumentiert. Darüber hinaus strebe man einen Rollenwechsel an und wolle das Modesystem nicht mehr nur nähren und unterstützen, sondern auch stärken und revolutionieren. Für die Initiatorinnen des Digital Fashion Multilogue und ihre Mitstreiter*innen stellt sich die Frage, wie zukunftsweisende Inhalte in der Modeausbildung vermittelt werden können und inwiefern in diesem Punkt von anderen Bildungsbereichen und –praktiken zu lernen ist. Last but not least sind auch disziplinübergreifende Ansätze gefragt. Die Bandbreite dieser Themen spiegelte sich in insgesamt 26 Workshops, in denen kleine Gruppen von Modestudierenden und -pädagog*innen auf Augenhöhe diskutierten und interagierten.
Verbindung von Theorie und Praxis
Das Themenspektrum reichte von Dekolonisierung, Size-Inclusivity und der Rolle von Design-Thinking in der Kreislaufwirtschaft über Veränderungen, die Technologien in der Modeindustrie bewirken bis hin zu den Arbeitsbedingungen von Modedesigner*innen und Akteuren der gesamten Lieferkette. Dazu zwei Beispiele:Im Workshop Breakers and Gamers wurde die Operationalisierung von Lügen, Übertreibungen und Fake News für ein innovatives Modedenken nachvollziehbar dargestellt. Die Teilnehmer*innen des Workshop waren eingeladen, die Position der Lügenden einzunehmen. Sie sollten Lügen als Weg zu spekulativem Denken erforschen - und als Mittel für den nicht-hierarchischen Austausch zwischen Teilnehmern verschiedener Hintergründe und Expertenlevels.
Im Workshop Dream & Reality wurden innovative Designmethoden für die Bewältigung der komplexen und oftmals in Konflikt stehenden Herausforderungen der globalen Modeindustrie vorgestellt. Sabine Lettmann (Birmingham City University) und Claudia Rosa Lukas (austrianfashion.net) führten die Teilnehmer*innen durch die fünf Phasen des Design Thinking-Modells. Charakteristisch für das Modell ist ein Innovationsprozess, der die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Zentrale Kategorien im Workshop waren Circular Fashion, Konsumverhalten und Inklusion.
Einstellungen von Modestudent*innen
Das Online-Magazins 1Granary führte während der Konferenz eine Live-Umfrage unter Modestudent*innen durch. Diese indizierte, dass die nächste Generation vieles anders machen würde. 93 Prozent der Teilnehmer*innen plädierten für eine Umgestaltung der Modeausbildung; 81 Prozent stimmten der Aussage zu, dass soziale Gerechtigkeit ein wichtiges Thema ist; 86 Prozent fanden, dass eine gute Designausbildung ein theoretisches Fundament braucht und 71 Prozent stellten fest, dass Modeausbildung nichts mit dem realen Leben zu tun hat. Neue Berufsbilder
Auch die Karriereziele von Modestudent*innen weichen mitunter signifikant von der bloßen Kollektionserstellung ab und lassen deren Berufsbild sehr facettenreich erscheinen. Absolvent*innen des Bachelor Lehrgangs für Modedesign an der RMIT Universität in Melbourne, Australien, antworteten auf die Frage ‚What is your future career in fashion design?’ mit 50 verschiedenen Berufsbezeichnungen. Großteils adressieren die genannten Berufsbilder eine nachhaltige Zukunft der Modeproduktion, wie etwa ‚fashion recycler’, ‚social responsibility design strategist’ oder ‚combating consumerism and re-valorising waste’. Ein anderer Teil der genannten Berufsbilder bezieht sich auf eine zunehmend technisierte Modeindustrie. Beispiele dafür sind ‚digital couturier’, ‚sustainable functional clothing developer’, uniform customer, oder ’body and garment relationship designer’. Weitere erkennbare Tendenzen sind soziales Geschlecht (subverter of the feminine ideal), Tradition (craft preservationist) und Experiment (design of emotions as aesthetics). Die RMIT School of Fashion and Textiles verfolgt die Schwerpunkte Technologie, Design und Unternehmertum.Freiheit des kreativen Ausdrucks
Aber auch wenn es um den eigenen kreativen Ausdruck geht, empfinden die Modestudent*innen „Zynismus und Verzweiflung“ und suchen nach Wegen, ihre Kreativität frei entfalten und verorten zu können. Das sagte Christina H. Moon in einer Art Impulsreferat. Die Assistenzprofessorin forscht und unterrichtet an der Parsons School of Design in New York City im Fach Fashion Studies in the School of Art and Design History and Theory. Sie beschreibt die ideale Modeausbildung als „eine gegenhegemonielle Politik des Visuellen, des Textes und des Textilen sowie des Pädagogischen“ - als etwas, das Grenzen widersteht und überschreitet, „um Zugang zu vielen Welten zu ermöglichen“.„Ich suche eine Modeausbildung, die unsere Sinne wiederherstellt und uns bestätigt - eine Modeausbildung, die verschiedene Lebensrealitäten zulässt und zeigt, wie wir uns in Beziehung zueinander formen.“ Christina H. Moon
Potenzial zur Utopie
Im Multilogue Think Tank waren die Modestudent*innen dann aufgerufen, das noch ungenutzte utopische Potenzial der Mode zu untersuchen. Sie hatten die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Modeausbildung in länder-, institutions- und fachübergreifenden Kollaborationen zu diskutieren und in Konzepten zu formulieren. Dabei zeigte sich, dass sie in Influencern und Fashion Weeks verzichtbare Zeiterscheinungen sehen. Was sie wollen, sind Designkonzepte, die Probleme lösen – Designkonzepte, die auf Co-Kreation und nachhaltigen Technologien basieren.
Mode als Instrument
Die Modestudent*innen konzipierten auf einem Miroboard eine ‚Reise in die Zukunft der Modeausbildung‘. Dabei nutzten sie den Zukunftskonus, den Joseph Voros 2001 als ‚Startpunkt für Zukünfte‘ einführte. Der Konus besteht aus drei Schichten, welche jeweils eine mögliche, eine plausible und eine wahrscheinliche Zukunft darstellen. Die Utopie wurde in der möglichen Zukunft dargestellt und enthielt Thesen, welche Lösungen für die Nachhaltigkeitskrise der Mode aufzeigten. Ein Beispiel für eine solche These ist, dass neue Kleidung nicht länger wertvoller ist als alte Kleidung. Ein anderes Beispiel ist, dass die Rechte und Rahmenbedingungen für Textilarbeiter und Kreateure zum wesentlichen Teil des Designprozesses werden.
Dazu ein Zitat:
„Fashion is an art but it is also a tool, and I think that fashion education today misses the mark in terms of the psychological, economic, ecological and anthropological effects that this tool has. I think that the circular economy and upcycling need to become the main focus of fashion education.“
Soziale Gerechtigkeit
In den Talks trat unter anderem Dr. Ben Barry auf. Heute Modedekan an der Parsons School of Design in New York City, gründete er schon als Teenager eine Modelagentur, die Menschentypen abseits der gängigen Schönheitsideale vermittelte. Dadurch hat er schon früh erfahren, dass sich Wandel herbeiführen lässt. In der Konferenz deckte er die Themen soziale Gerechtigkeit, ideale Modekörper und Dekolonisierung der Mode ab. Er postulierte, dass Modeausbildung auf dem Fundament der Weißheit beruhe. Wolle man das ändern, dann reiche es nicht, einfach nur zu ‚Vielfalt’ überzugehen. Denn dann bleibe dieses hierarchische Fundament erhalten. Hingegen gelte es die exkludierenden Konventionen der Modeindustrie mit konkreten und entschiedenen Praktiken zu enthüllen. Seine Aussagen basieren übrigens auf jüngster Forschung: Erst unlängst veröffentlichte er den Artikel ‘How to Transform Fashion Education’ im Journal of Fashion Studies. Konstruktive Unordnung
Im Vorfeld der Konferenz konnten auch Papers zu vorgegebenen Themen eingereicht werden. Eines der Themen war Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis - konstruktive Unordnung und Transdisziplinarität. Alessandra Vaccari, Assistenzprofessorin für Modegeschichte und –theorie an der Università luav di Venezia, lieferte dazu ein Paper, in dem sie sich mit der Anwendbarkeit von Uchronia auf die Modegeschichte auseinandersetzte. Der Begriff Uchronia kommt aus der Literatur und bedeutet Alternativweltgeschichten. Vaccari zeigt auf, wie fiktionale Geschichten, die charakteristisch für unsere Gegenwart sind, eingesetzt werden können, um eine bessere Zukunft zu kreieren.Kuratorin des Themas war Dr. Valerie Steele - Direktorin und Kuratorin des Museums am Fashion Institute of Technology (FIT) in New York und Gründerin und Chefredakteurin von Fashion Theory: The Journal of Dress, Body & Culture, dem ersten Wissenschaftsjournal mit Peer Review in den Fashion Studies.
Mit dem utopischen Ansatz der Konferenz machen die Veranstalter*innen deutlich, wie enorm die aktuellen Herausforderungen im Feld der Mode sind und dass es Träume braucht, um Strategien für eine wünschenswerte Zukunft zu entwickeln. Die nachkommenden Generationen haben das Potenzial diese Utopien real werden zu lassen. Sie wurden in eine globalisierte und digitalisierte Wirtschaft und eine Zeit großer Unsicherheit hineingeboren. Sie haben Klimawandel, finanzielle Instabilität, Vertreibung und Diskriminierung erlebt und daraus Empathie und Wille entwickelt, Probleme anzupacken und Dinge zu revolutionieren. Eine zukunftsorientierte Modeausbildung soll sie dazu ermächtigen.
Dazu das Credo des Multilogue Think Tank:
“Angesichts der fundamentalen Kräfte und Herausforderungen die das Feld der Mode formen, brauchen wir Träume und Aktionen die uns in Zukünfte leiten, die wir wollen.”
Hildegard Suntinger (05.01.2022)