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Netzwerk Mode Textil

Seit Juli 2008 gibt es das erste deutschsprachige Netzwerk zur Kulturgeschichte und Kulturwissenschaft von Textilien, Kleidung und Mode. Die Jahresmitgliederversammlung von netzwerk mode textil e.V. findet vom 5. - 8. Mai erstmals in Wien statt. Wir haben Frau Dr. Gundula Wolter, erste Vorsitzende des Vereins, zum Gespräch getroffen.

Das netzwerk mode textil ist ein Zusammenschluss von WissenschaftlerInnen, PraktikerInnen und Kreativen, Lehrenden und Lernenden im deutschsprachigen Raum. Die Interessenvertretung für MitarbeiterInnen und Institutionen der kulturwissenschaftlichen Textil-, Kleider- und Modeforschung verknüpft interdisziplinäre Projekte. Sie bietet zudem eine Fülle fachbezogener Informationen und fördert insbesondere den persönlichen fachlichen Austausch unter den Mitgliedern.

Seit wann gibt es das Netzwerk und was war die Motivation, es zu gründen?

Ich gehöre - zusammen mit Ingrid Loschek - sozusagen zum 'Urgestein' der modehistorischen Forschung in Deutschland. Wir haben uns - mit anderen Mitstreiterinnen -  regelmäßig auf internationalen Tagungen und auf der jährlichen Tagung der "Gesellschaft für historische Waffen- und Kostümkunde" getroffen und dabei konstatiert, dass im deutschsprachigen Raum ein Ort fehlt, an dem unsere Anliegen sinnvoll zusammenführt werden. Zunächst war unser Ansatz, uns innerhalb dieser sehr traditionsreichen Gesellschaft - sie existiert schon seit 1896 - neu aufzustellen, weil die waffenhistorische Forschung auf der einen und die modehistorische Forschung zusammen mit der Modetheorie auf der anderen Seite inzwischen sehr verschiedene Wege gehen. Denn spätestens seit den 1980er Jahren verläuft die Forschungsentwicklung bei Modegeschichte und Modetheorie in völlig anderen Bahnen und endet auch vor allem erst in der Gegenwart. Eine solche Aufteilung war allerdings nicht durchsetzbar und da wir uns eben nicht mehr als 'Kostümkundlerinnen' verstanden, entwickelten wir die Idee, eine eigene Plattform zur besseren Vernetzung zu gründen, die man dann in die Gesellschaft für historische Waffen- und Kostümkunde hätte integrieren können.

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Aber das hat nicht funktioniert?

Davon nahmen wir schließlich Abstand, weil unsere Plattform einen immensen Zuspruch bekam und die Gesellschaft quasi gesprengt hätte. Wir hatten hier offenbar einen Nerv getroffen und gerade die jüngeren Forschenden waren total begeistert - und das war wohlgemerkt noch vor der Zeit der Fashion Studies! Denn es gab im deutschsprachigen Raum bis dato keine Anlaufstelle, die diese vielfältigen Forschungsansätze koordinierte, vernetzte und unterstützte. Wir wollten aber auch auf keinen Fall eine rein forschende Institution sein. Praktikerinnen und Praktiker, z.B. die Restauratorinnen und Restauratoren, die ein immenses Wissen haben, aber auch junge Kreative, Modedesignerinnen und -Designer und Kostümbildnerinnen und Kostümbildner, sollten hier einen Ort des Austauschs und der Anregung finden. Theorie und Praxis waren von Beginn an gleichberechtigte Felder in unserem Netzwerk.

Und 2008 haben Sie dann den Schritt gemacht und offiziell den Verein "netzwerk mode textil e.V." gegründet.

Ja, wir haben zu Dritt einen gemeinnützigen Verein gegründet, um einen klaren Rahmen zu schaffen, eine Webseite eingerichtet und dann gesehen, wer hat daran Interesse, wer macht mit, wer bringt sich ein. Wir starteten Mitte 2008 mit ca. 20 Mitgliedern. Im März 2009 haben wir dann unsere erste große Tagung in Krefeld "Intelligente Verbindungen" veranstaltet - unser Auftakt mit Ingrid Loschek als Festrednerin. Auf dieser internationalen Tagung untersuchten Forschende verschiedener Disziplinen erstmals die Interdependenzen zwischen Technik und Design für Textilien und Mode und wie das in der Geschichte ineinandergreift .Wir hatten hier erstmals öffentlich unseren Ansatz und die Ideen des Netzwerks präsentiert, der sehr offen und interdisziplinär ist - und die Tagung war ein Riesenerfolg! Die Mitgliederzahl stieg sprunghaft.

Ein weiteres Ziel ist, das Niveau der Modeforschung insgesamt extrem anzuheben, damit die Achtung vor dem Kleider- und Textilsujet im allgemeinen Bewusstsein steigt, denn an Hochschulen und Museen wurde diese Thematik viel zu Lange als "Weiberkram" oder "Tüttelkram" belächelt. Ein Problem, das übrigens auch der Modejournalismus hatte und teils noch hat.

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Reclams Mode- und Kostümlexikon von Ingrid Loschek. 6., erweiterte und aktualisierte Auflage, bearbeitet von Gundula Wolter. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2011

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Teufelhörner und Lustäpfel: Modekritik in Wort und Bild 1150–1620. Jonas Verlag , Marburg 2002

D.h. ihr Verein versteht sich auch als Vorreiter für eine Akademisierung der Modeforschung?

Absolut, aber Akademisierung im positiven Sinne: Dass man nicht die Sache verquast und Theorie um der Theorie willen betreibt, sondern möglichst alle Expertinnen zusammenführt, um die Modeforschung entscheidend voranzutreiben. So haben z.B. die Quellen aus den 1920er Jahren, die noch heute zitiert werden, oft keine Anmerkungen, d.h. das Behauptete ist nicht zu überprüfen. Denn es mangelt an Grundlagenforschung und einer einheitlichen Fachterminologie, hier ist noch viel zu tun. Deshalb wird die Modeforschung von andere Disziplinen gerne belächelt.

Was für Aufgaben nimmt der Verein heute wahr?

Die Aufgabenfelder haben sich dynamisch entwickelt und richten sich an den Interessen der Mitglieder aus, auch der Vorstand gibt Impulse oder nimmt Impulse auf. So sind schon sehr spannende Sachen entstanden. Zum Beispiel die Durchführung von Tagungen und Symposien in Kooperation mit Museen oder Hochschulen wie 2013 das an der TU Berlin angesiedelte Symposium zum Thema "Shoe goes sustainable".

Wenn Mitglieder eine Idee zu einem Projekt haben, dann können wir die Umsetzung auf Antrag bezuschussen. Vor allem aber können wir über unsere Webseite, unseren E-Mail-Verteiler und über unsere Facebook-Seite Werbung dafür machen. So erreichen wir sehr hohe Teilnehmerzahlen. Zu den Vorträgen und Symposien kommen jetzt nicht mehr 30 sondern 100 Interessierte.

Ein großes Projekt in der Pipeline ist eine interdisziplinäre Datenbank, in der Masterarbeiten, Promotionen und Habilitationen seit dem Jahr 2000 fortlaufend erfasst werden. Das, was andere Fächer wie Kunstgeschichte oder die Ethnologie schon haben, wollen wir damit etablieren, und das ist mit einem sehr großen Aufwand verbunden. Die Datenbank soll Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres allen interessierten Forscherinnen und Forschern zugänglich sein. Bisher landeten Anfragen zur Themenrelevanz oft direkt bei mir, manchmal fragen sogar die Doktorväter oder -mütter dazu nach. Die Datenbank dient dazu, die Forschungsvorhaben transparent zu machen, Dopplungen zu vermeiden und Forschende mit ähnlicher Thematik zu vernetzen.

Das Netzwerk versteht sich also auch als Dienstleister?

Richtig. Seit der Gründung 2008 sammeln wir mit über 20 Freiwilligen Informationen zu sämtlichen Neuerscheinungen, Tagungen und Ausstellungen - weltweit. Hier entsteht ein riesiges Archiv.

Wenn also zum Beispiel ein Mitglied eine Ausstellung über historische Schuhe plant, kann es sich auf der Website informieren, was es bereits für Ausstellungen zu diesem Thema gegeben hat. Die Bereitstellung dieser Informationen ist einerseits eine Serviceleistung, andererseits wollen wir damit auch das Niveau der Forschung durch umfassende, qualitativ hochwertige und leicht abrufbare Informationen verbessern helfen.

Wem stehen diese Informationen zur Verfügung?

Für die Nutzung der Archive müssen sie Mitglied werden. Wir haben erschwingliche Mitgliedsbeiträge und arbeiten alle ehrenamtlich "für die Sache". Sie können für 100 Euro im Jahr reguläres Mitglied werden - Studierende zahlen die Hälfte und Institutionen das Doppelte. Wir sind kein Riesenverein mit gut ausgestatteter Geschäftsstelle, wir sind auf persönliches Engagement und auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen. Aber das funktioniert bestens. So haben wir mittlerweile eine schöne Facebook-Präsenz, die von einer sehr engagierten Volontärin des Berliner Kunstgewerbemuseums gepflegt wird.

Unsere Mitglieder profitieren natürlich nicht nur von den Archiven, sondern auch von der Vernetzung untereinander und mit den Partnern. So haben sie beispielsweise die Möglichkeit, ihre Veranstaltungen, Tagungen etc. mit Unterstützung des Netzwerks zu propagieren und durchzuführen. Ebenfalls ist es möglich, Tagungsbände in unserer Schriftenreihe Intelligente-Verbindungen unterzubringen.

Ein weiteres Großprojekt ist unser Magazin. Wir werden demnächst eine eigene Fachzeitschrift verlegen, mit Beiträgen je zur Hälfte aus der Modetheorie und aus der Praxis, Rezensionen und Ausstellungsbesprechungen. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber das wird ein ganz neues Format und soll jährlich oder alle zwei Jahre erscheinen, erstmalig Ende dieses Jahres. Mitglieder erhalten das Magazin kostenlos als Jahresgabe.

Und wie soll die Zeitschrift heißen?

(lacht) Einen Titel haben wir nicht, aber vielleicht haben wir bei der Jahresversammlung in Wien ja die zündende Idee.

Versteht sich das Netzwerk auch als Lobby und wenn ja, für wen?

Ganz sicher, ich treibe das auch immer voran und sage, wir müssen politisch noch sichtbarer werden, etwa im Hochschulbereich und auch in den Museen. Anders als zum Beispiel Schmuck oder Keramik können historische Textilien nur begrenzt und nicht dauerhaft ausgestellt werden, daher wird dieser Bereich in Museen oft stiefmütterlich behandelt. Hier unterstützen wir die Kolleginnen vor Ort und setzen uns gegen Etatkürzungen und gegen den Abbau von Stellen ein.

Wie viele Mitglieder hat das Netzwerk heute?

Wir haben rund 250 Mitglieder, darunter sind erfreulicherweise mittlerweile auch viele Institutionen, die dann mit zwei Personen geführt werden. Aus Österreich kommen übrigens 20 Mitglieder, auch das MAK (Museum für angewandte Kunst), das österreichische Volkskundemuseum und das Textile Zentrum Haslach sind als institutionelle Mitglieder dabei.

Was mich besonders freut, ist, dass wir 23 Mitglieder haben, die zurzeit promovieren. Das sind Zahlen, die ich mir vor wenigen Jahren noch nicht vorstellen konnte. Wir werden jetzt eine eigene kleine Plattform für Promovierende initiieren und auf der Jahresversammlung wird es dazu ein erstes DoktorandInnentreffen geben. Seit längerem haben Promovierende bereits die Möglichkeit, sich über unsere Webseite mit ihrem Forschungsvorhaben vorzustellen und zu vernetzen.

Sie haben die Jahresmitgliederversammlung ja schon angesprochen. Dieses Jahr findet sie in Wien statt. Wie sind sie denn auf Wien gekommen?

Wir fragen bei den Jahresmitgliederversammlungen immer, wer gerne ein Treffen ausrichten möchte. Katja Schmitz von Ledebur vom Kunsthistorischen Museum Wien hatte schon vor vier Jahren angeregt, die Versammlung einmal nach Wien einzuladen, jetzt wurde dies zu unserer großen Freude in die Tat umgesetzt, unseren Wiener Kolleginnen gilt unser Dank. Für die Gastgebenden ist das natürlich immer eine schöne Möglichkeit, ihre Sammlung einem besonders interessierten Fachpublikum zu zeigen. Kathrin Pallestrang vom Volkskundemuseum Wien hat die Koordination für die Vorbereitung übernommen. Zum Vorbereitungsteam gehörten noch Elisabeth Hackspiel-Mikosch vom Vorstand und aus Wien Katja Schmitz von Ledebur, Katharina Kielmann und Tanja Kimmel. Es wird eine große Veranstaltung werden, wir erwarten rund ein Drittel unserer Mitglieder.

Programm 5.-8. Mai

Die Jahresmitgliederversammlung und die damit verbundenen Exkursionen sind geschlossene Veranstaltungen. Haben Sie dennoch ein offenes Angebot für InteressentInnen?

Ja, genau für diesen Zweck bieten wir eine öffentliche Vortragsreihe an (Volkskundemuseum Wien, Freitag, 6. Mai 2016, 17.30-19.30 Uhr). Hier sind alle Interessierten herzlich willkommen. Es gibt auch einen Büchertisch mit Publikationen unserer Mitglieder, Veranstaltungshinweisen und Informationen zum Netzwerk. In den Pausen kann man uns natürlich auch gerne ansprechen.

Vielen Dank für das Gespräch.

www.netzwerk-mode-textil.de

Interview: Daniel Braunschweig, freier Journalist in Berlin

Dr. Gundula Wolter ist Mitbegründerin und erste Vorsitzende von netzwerk mode textil e.V.
Die Autorin und Modehistorikerin promovierte 1993 am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin und war seit 1998 als Professorin unter anderem an der Universität der Künste Berlin und der Kunsthochschule Berlin Weißensee tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Europäische Kleidungsgeschichte, Kleidung und Geschlecht aber auch die Modestadt Berlin. Dr. Gundula Wolter arbeitet heute freiberuflich als Modeexpertin, Projektberaterin und Autorin.

Collage: Heidi Woitinek, Seidenapplikation 1990, Foto: Bernd Kuhnert
Abendkleid von Fortuny um 1920, Foto: Saturia Linke © Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kunstgewerbemuseum

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