Wie aus Bioabfall innovative Materialien entstehen
Innovative Materialien sind in Medienberichten zunehmend präsent. In der Modeindustrie angekommen sind diese allerdings noch nicht. Die Technologien kommen meist von Start-ups, die von Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft geleitet sind. Den Weg in den Markt müssen sie sich erst mühsam bahnen.
Start-ups im Materialsektor kommen meist aus der Biotechnologie. Ein Beispiel dafür sind Adriana Santonocito und Enrica Arena. Sie waren noch Studentinnen, als sie entdeckten, dass aus der Zellulose der Orangenschalen ein verspinnbares Polymer zu gewinnen ist. Das daraus zu fertigende Material, kommt dem einzigartigen Griff und Fall von Seide gleich. Mittlerweile haben die Erfinderinnen ihr eigenes Unternehmen, das unter dem Namen Orange Fibre läuft. Den Rohstoff beziehen sie kostenlos aus dem Bioabfall von Orangensaftproduzenten in Taormina/Sizilien. Das erste Couture-Haus, welches das innovative Material verwendete, war Salvatore Ferragamo in 2017. Zwei Jahre darauf ging das Material in die Kollektion Conscious Exclusive von H&M ein.
Neue Materialtechnologien
Aufregend an den innovativen Materialien sind nicht zuletzt die Technologien. Denn die Rohstoffe sind nicht immer naheliegend. Zumindest wenn es um Bioabfall geht, wie etwa die Feststoffe, die beim Pressen von Apfelsaft übrigbleiben. Diese werden konventionell im Biomüll entsorgt oder zu Brennstoff und Hundefutter verarbeitet. Der sogenannte Trester - Stängel, Schale und Fasern – weist allerdings einen hohen Zellulosegehalt auf und eignet sich zum Upcyceln. Das entdeckte der Südtiroler Hannes Parth, der aus dem Trester weiches, wasserfestes und widerstandsfähiges Kunstleder fertigt.
Leder aus Apfelresten
Er trocknet die Apfelreste und mahlt diese anschließend zu einem feinen Pulver. Dieses wird mit einem Lösungsmittel und einem biologisch abbaubaren Kunststoffersatz aus Milcheiweiß vermischt und in einer Schicht auf ein Trägermaterial aus Baumwolle aufgetragen. Alle Zutaten sind zu hundert Prozent biologisch abbaubar. Der anschließende Backprozess lässt das Material wasserfest und widerstandsfähig werden. Abschließend kann noch eine Prägung aufgebracht werden.
Vom Schweizer Label Happy Genie wird das Apfelleder auch bedruckt. Gründerin Tanja Schenker fertigt daraus luxuriöse Handtaschen. Das Label ist repräsentativ für Parths Modekunden: Meist sind es junge vegane und umweltbewusste Labels, die darin auch ein politisches Statement sehen.
Leder aus Ananasblättern
Auch Dr. Carmen Hijosa verwendet Bioabfälle: Sie verwertet die Ananasblätter, die bei der Ananasernte als Nebenprodukt anfallen. Die Nutzung der Pflanzenfasern war ihr aus traditionellen Webverfahren bekannt. Bei der Gewinnung der Fasern wird den steifen Ananasblättern zunächst das Pektin entzogen. So werden diese weich und geschmeidig und die Fasern können in einem Spezialverfahren enthülst und vom Leim befreit werden. Die Nebenprodukte werden zu Biodünger und Biogas verarbeitet und von den lokalen Landwirtschaftsgemeinschaften genutzt.
Gemeinnütziger Effekt
Um ein lederartiges Material zu gewinnen, filzt Hijosa die getrockneten Fasern und presst den Filz zwischen Walzen zu einer stabilen Fläche. Abschließend wird eine Beschichtung appliziert. Dadurch wird das Material wasserfest und widerstandsfähig - bleibt aber dennoch weich. So kann es leicht geschnitten, genäht und bedruckt werden. Das innovative Material besteht aus Ananasfasern (80%), dem Biokunststoff Polylactide (PLA) und petroleumbasierten Harzen. Als solches entspricht es den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft - ist jedoch noch nicht biologisch abbaubar. Hervorzuhaben ist weiters der soziale Aspekt: Ananasleder schafft in Ananas anbauenden Regionen neue Einnahmequellen und Industrien.Der von Hijosa entwickelte Lederersatz läuft unter dem Markennamen Piñatex und wird von Ananas Anam produziert. Produkte aus der Ananasfaser sind bereits in mehreren Kollektionen zu sehen, wie etwa in jener der italienischen Modedesignerin Laura Strambi. Sie hat unter anderem eine silberne Jacke in Schaffelloptik aus Piñatex genäht.
Vermeidung tierischer Rohstoffe
Die Entwicklung neuer Materialtechnologien ist von einem ökologischen und sozialen Bewusstsein angetrieben - aber auch von der Vermeidung tierischer Rohstoffe. Diese sind nicht nur in Leder enthalten - auch Wolle und Seide sind tierischen Ursprungs.
Nathalie Spencer, Absolventin des Central Saint Martins College of Art and Design in London, möchte mit ihrem Projekt Wool Re Crafted auf die ethischen und ökologischen Probleme der Nutzung von Tierprodukten aufmerksam machen – und sowohl die Produktion als auch den Konsum von Bekleidung in Frage stellen. Die Wollproduktion trägt zur globalen Verschmutzung durch Methanemissionen, chemische Schadstoffe und Fäkalverunreinigungen bei.
Vegane Alternative zu Wolle
Spencer entwickelte eine vegane Alternative zu Wolle. Dabei nutzt sie die Abfälle der Ananasfrüchte, die in Londoner Bars und Märkten weggeworfen werden. Auch sie verwendet die Fasern aus den Blättern, die sie extrahiert und zu Wolle verspinnt. Das Garn ist ausgesprochen fein und waschbar – und Spencer webt daraus auf dem Handwebstuhl Stoffe. Das vegane Produkt ist nachhaltiger als Wolle aus Tierfell und entspricht den Anforderungen der Kreislaufwirtschaft.
Die vorgefasste Ästhetik von Nachhaltigkeit aufbrechen
Hoher Wasserverbrauch und chemische Zusätze - Stoffe haben eine große Auswirkung auf die Umwelt. Gleichzeitig sind sie Ausgangspunkt und Inspiration für neue Designs. Weshalb Designer manchmal vor der Situation stehen, auf etwas verzichten zu müssen. Zum Beispiel, weil es noch keinen Ersatz für ein Produkt gibt, das Mikroplastikverschmutzung verursacht:
„Es gibt das Stigma, dass nachhaltige Mode und Textilien aufgrund natürlicher Pigmente ecru oder erdfarben sein müssen“, sagt Elissa Brunato. „Veredelte Kunststoffe und schimmernde Beschichtungen waren mit dieser Vorstellung bisher nicht vereinbar – üben aber mit ihren Effekten eine große Faszination auf Menschen aus.“ Sie wollte die vorgefasste Ästhetik des Begriffs Nachhaltigkeit aufbrechen und entwickelte einen zeitgenössischen Nachhaltigkeitsansatz in Kollaboration mit RISE (Research Institutes of Sweden): biologische Pailletten, die ohne chemische Zusätze matt schimmern.
Biologisch abbaubare Pailletten
Basis für Brunatos Innovation ist Zellulose aus dem Rohstoff Holz. Diese hat die Fähigkeit, Licht zu brechen und Strukturfarben zu bilden. Herkömmliche Pailletten sind aus dem nicht erneuerbaren Rohstoff Erdöl gefertigt. Sowohl deren Nutzung als auch deren Entsorgung tragen zur Mikroplastikverschmutzung bei.
Sowohl Brunatos als auch Spencers Innovation war Teil der Ausstellung Designing in Turbulent Times in der Londoner Lethaby Gallery and Window Galleries, in der Arbeiten mit disruptivem Potenzial gezeigt wurden. Die Ausstellung zeigte die Highlights aus dem Nachhaltigkeitsprojekt Maison /0 das 2017 von LVMH und dem Central Saint Martins College of Art and Design gegründet wurde.
Der Designaspekt neuer Materialentwicklungen
Stoffe sind nicht nur zweckgebunden, sondern liefern auch Inspiration für neue Designs - und tatsächlich bergen innovative Material-Technologien auch neues kreatives Potenzial. Die österreichische Designerin Natalie Zipfl experimentierte in ihrer Masterkollektion am Central Saint Martins College of Art and Design in London mit Schweineblut. Die Inspiration lieferte ein künstlerisches Konzept, in dem sie ihr persönliches Kindheitstrauma aufarbeitete: Das Blut steht für ihre Anstrengungen den hohen Leistungsanforderungen ihres Vaters zu entsprechen - um geliebt zu werden.
Latex aus Schweineblut und Gelatine
Auch Zipfl verwertet Bioabfall. Das ist zwar nicht vegan, aber doch entlastend für die Umwelt. Das innovative Material ist biologisch abbaubar und könnte theoretisch sogar gegessen werden. Einigen Stücken hat sie deshalb einen Geschmack hinzugefügt. In der Herstellung wird das Blut mit Gelatine vermengt und in flüssigem Zustand in einer dünnen Schicht auf eine Platte gegossen. Nach dem Trocknen wird die Schicht abgelöst. Das Material fühlt sich an wie Latex oder Silikon und ist wasserbeständig. Es kann sowohl genäht als auch geklebt werden.
Zunächst nur für Show Pieces entwickelt, soll das Latex aus Schweineblut und Gelatine bald in kommerziellen Teilen umgesetzt werden: Zipfl arbeitet bereits an einer ready-to-wear Serie. Für einen sparsamen Umgang mit den Ressourcen legt sie die Schnittteile unter transparente Platten, um Verschnitt weitgehend zu vermeiden. Anfallende Reststücke werden eingeschmolzen und erneut gegossen.
Zipfls Strategie erinnert an jene von Carol Christian Poell: Der österreichische Designer, der in Mailand lebt, bedeckte die Innenseite von Leder mit Tierblut. Das war in seiner Kollektion von 2005. Für ihn war das ein symbolischer Akt, dem Leder Leben zurückzugeben. Poell dachte, dass es der einzige Weg sei, dem Leder einen echten Charakter zu verleihen, da sich die chemische Natur des Blutes im Laufe der Zeit verändert.
Text: Hildegard Suntinger (05.02.2020)